Der alte Traum vom Ende der Geschichte

Das von Francis Fukuyama vor knapp zwei Jahrzehnten ausgerufene Ende der Geschichte führte anno dazumal zu lautstarken und lang anhaltenden Kontroversen auf allen Ebenen. Zwanzig Jahre später allerdings scheinen sich seine Thesen, ob bewusst oder unbewusst, im Denken der Menschen in unseren Breiten manifestiert zu haben. Wenngleich noch vereinzelt totalitäre wie sozialistische Staatsführungen existieren, der Monopolanspruch westlicher Denkweisen und Weltinterpretationen erscheint dem Gros der Bevölkerung als legitim. Dies zeichnet sich konsequenterweise auch in den Worten und Taten der Politik dies- und jenseits des Atlantiks ab.

Fukuyama betrachtete mit dem Niedergang der UdSSR die letzte fundamentale Konfrontation politischer Systeme als endgültig beendet. Methodisch auf den Theorien von Marx und Hegel aufbauend, beschrieb er die Logik des Niedergangs des kommunistischen Systems und der weltweiten Konsensbildung hin zu einer liberalen, demokratischen Staatsführung. Mit der Beendigung des kalten Krieges sah er die Zeit reif für ein endgültiges globales Einvernehmen weltpolitischer Betrachtungsweisen. Später räumte Fukuyama ein, die Dynamik der islamischen Länder falsch eingeschätzt zu haben. Langfristig erwartet er aber weiterhin, dass die nicht-westlichen Kulturen durch Integration und Assimilation ihre Grundsätze zugunsten individueller Freiheit und Menschenrechte aufgeben würden.

Bei objektiver Betrachtung allerdings wirken die optimistischen Vorhersagen Fukuyamas tendenziell eher naiv und phantasielos. Ebendieser Mangel findet sich in zahllosen anderen, gern als wissenschaftlich bezeichneten und allgemein anerkannten, Prognosen wieder. Egal ob man die Vorhersagen des Club of Rome, die Modelle zur Einschätzung des Klimawandels oder die Einschätzungen der zukünftigen wirtschaftlichen und politischen Weltmächte heranzieht – immer wieder wird von einer linearen Weiterentwicklung der aktuellen Tendenz in jeder Hinsicht ausgegangen. Die „Berechnungen“ des Club of Rome von 1972 wurden mittlerweile als weitgehend weltfremd enttarnt (was die Autoren nicht daran hinderte dieselben Fehler zu wiederholen), auch die Voraussagen sowie Beurteilungen zum Klimawandel mussten schon jetzt relativiert und angepasst werden (unabhängig von gefälschten Datensätzen).

Wesentlich beharrlicher dagegen zeigt sich die Einschätzung der weltpolitischen und wirtschaftlichen Zukunft. Insbesondere die unaufhaltsame Entwicklung von China und Indien zu neuen weltpolitischen Großmächten scheint de facto unumstritten. Nicht zuletzt nachvollziehbare Ängste in den Industriestaaten spielen dabei eine wesentliche Rolle. Das unerschöpfliche Potential an billigen Arbeitskräften und das ungebremste Wachstum der letzten Jahrzehnte trüben bei dieser Einschätzung aber den nüchternen Blick auf die Zukunft erheblich. Aus der nötigen Distanz werden zahlreiche Erschwernisse für die lineare Weiterentwicklung der beiden Milliardenstaaten erkennbar.

China gehört zu den ältesten Hochkulturen der Welt und war den Europäern zumindest bis ins 17. Jahrhundert ökonomisch mehr als ebenbürtig. Aufgrund einer restriktiven Abschottung nach außen hin durch die letzten Kaiser und die kommunistischen Führer wurde das Land allerdings in seiner Entwicklung weit zurückgeworfen. Zuletzt wurde das Land unter Mao Zedong durch die Verbrechen der Kulturrevolution und den “Großen Sprung nach vorn“ wirtschaftlich gänzlich ruiniert. Etwa 40 Millionen Chinesen bezahlten Maos Experimente mit ihrem Leben. Erst nach Maos Tod 1978 konnte der damals bereits 74 jährige Deng Xiaoping mit der außenpolitischen Öffnung Chinas einen ökonomischen Aufschwung einleiten. Durch die bewusste Inkaufnahme von Ungleichheit für die Bevölkerung und die anfängliche Fokussierung auf die blühenden Küstenregionen zu Lasten des Hinterlandes konnte ein vorher unbekanntes Wachstumsniveau erreicht werden.

Trotz erheblicher kultureller Unterschiede ist das Schicksal Indiens demjenigen Chinas durchaus ähnlich. Zwei Jahrhunderte lang wurde Indien von den britischen Besatzern böswillig an jeder Weiterentwicklung gehindert. Nach der Entlassung in die Unabhängigkeit 1947 war der Hass auf die westlichen Besatzer enorm, weshalb die Zuneigung zum sozialistischen Russland nur allzu verständlich war. Mit Stalin als Lehrmeister war freilich schnelle Weiterentwicklung kaum zu erwarten – Planwirtschaft und Bürokratisierung hielt das Land weiterhin im Würgegriff. Erst der Untergang der Sowjetunion nach den Reformen von Gorbatschow gab Indien den nötigen Freiraum, um 15 Jahre nach den ersten Reformen Deng Xiaopings ebenfalls eine Öffnung hin zu globalen Märkten anzustreben. Zahlreiche Vorbilder im asiatischen Raum waren mittlerweile Beweis genug für die Potentiale des Kapitalismus.

Seit der Öffnung der beiden Großmächte sind nunmehr 32 bzw. 18 Jahre vergangen. Das Aufholpotential der beiden Länder war naturgemäß enorm, schließlich haben sie den gesamten Prozess von 150 Jahren Industrialisierung „verschlafen“. Die rückständige Ausgangsbasis ermöglichte zweifelsohne enorme Wachstumsquoten, insbesondere die plötzliche Verfügbarkeit moderner westlicher Technologien erleichterte die ökonomische Aufholjagd erheblich. Eine zukünftige Abschwächung dieses Wachstums allerdings scheint aufgrund mehrerer Faktoren absehbar. Das enorme Wachstumstempo basiert im Wesentlichen auf der bedingungslosen Ausnutzung mehrerer Ressourcen. Neben der bewussten Ausbeutung der chinesischen Arbeitskräfte trugen auch der schonungslose Umgang mit der Natur und das fleißige kopieren westlicher Technologien zum ungebremsten Wachstum bei. All diese Faktoren aber schränken das zukünftige Potential, insbesondere in China, stark ein.

Die Industrialisierung und die Abwanderung aus den ländlichen Gebieten bietet insbesondere für die chinesischen Arbeiterinnen die Chance zu individueller Freiheit und Unabhängigkeit. Die ökonomische Freiheit allerdings wird bisher durch die Kontrolle der Arbeitnehmerrechte aber ebenso durch die relative Entwertung des Renminbi in engen Grenzen gehalten. Nur so kann die chinesische Regierung Exporte weiter billig und das Volk weiter in Armut halten. Die erhöhte individuelle Freiheit und ein langsam steigendes Bildungsniveau erhöhen aber die Gefahr politischer Aufstände signifikant, früher oder später werden Landbevölkerung und entrechtete Arbeitnehmer gemeinsam ihren Anteil an der Entwicklung fordern. Auch die enorme Umweltverschmutzung verschwendet Ressourcen und beschränkt die Expansionsmöglichkeiten. Die Aufrechterhaltung einer funktionierenden Infrastruktur sowie die Entwicklung arbeits- wie umweltrechtlicher Standards aber treiben die Produktionskosten in die Höhe. Ebenso würde eine Währungsanpassung nach oben chinesische Exporte verteuern und das Wachstum erheblich bremsen.

Schon heute aber ziehen sich viele Investoren aus der Volksrepublik zurück. Bei Betrachtung der gesamten Kosten lohnt sich in vielen Branchen ein Engagement in China nur mehr sehr bedingt, und hinsichtlich des Verlusts von Technologie betreiben westliche Unternehmen wie ihre Heimatländer gerne Protektionismus. Die Chinesen allerdings bleiben auch zukünftig weitgehend abhängig von westlichen Technologieimporten. Trotz der beachtlichen Bildungsinvestitionen bietet die weiterhin autoritäre Kultur kaum fruchtbaren Nährboden für Kreativität und eigenständige Entwicklungen. Diese Abhängigkeit zwingt die chinesische Führung zur künstlichen Stabilisierung der Produktionskosten im eigenen Land. Indien konnte durch die frühe Spezialisierung auf den Bereich IT eine erstaunliche Führungsrolle einnehmen, in anderen Bereichen hängt Indien aber umso mehr hinterher.

Wir haben uns bis jetzt weitgehend resistent gezeigt gegenüber einem kulturellen Austausch- und Lernprozess. Die kontinuierliche Demonstration von moralischer Überlegenheit und das monopolistische Vorgeben der westlichen Wertorientierung treffen im Osten aber auf taube Ohren. Mit der notwendigen Flexibilität und Offenheit aber bietet die Wiederauferstehung der östlichen Kulturen bisher unbeachtete Chance für die westlichen Gesellschaften. Die derzeit gelebte Abwehrhaltung und Passivität dagegen übersieht diese Möglichkeiten. Man wird um eine Redimensionierung der Sozialstaaten und eine bedingungslose Abwendung von einer konservierenden, innovationsfeindlichen Wirtschaftspolitik im Sinne mächtiger Großkonzerne nicht herumkommen. Der Westen wird bezüglich des Schutzes geistigen Eigentums einen Schritt auf China zugehen müssen. Die Patentpolitik schafft de facto Monopolsituationen, die für Entwicklung und Wachstum mittlerweile in vielen Bereichen mehr Schaden als Nutzen bringen. Die chinesische Kultur des Kopierens zwingt den Westen langsam dazu, diese Politik zu hinterfragen. Nicht die Bewahrung des Geschaffenen sondern die permanente Innovation bietet die Chance zu neuem, produktivem Wachstum im Sinne der Gesellschaft.

Der bisherige Aufstieg Chinas und Indiens sind insofern äußerst beeindruckend, als er ohne jede kriegerische und imperialistische Gewalt ausgekommen ist. Nie zuvor in der Geschichte ist derartiges gelungen. Der Reichtum des Westens sowie die Armut in anderen Weltregionen beruhen weitgehend auf den Schandtaten kolonialistischer Großmannssucht und kriegerischer Auseinandersetzung. Die Moralkeule aus dem Westen ist insofern umso gefährlicher, als dabei in China und Indien verständlicherweise grausame Erinnerungen an vergangene Zeiten aufleben. Die Verantwortung für beide Weltkriege und zahlreiche aktuelle Auseinandersetzungen tragen die Nationalstaaten des Westens. Moralische Vorbilder sehen sicherlich anders aus.

Das größte Gefahrenpotential für China, Indien und die Weltwirtschaft aber stellt die politische Instabilität im Inneren der Länder dar. In beiden Ländern konnten Volksaufstände bis dato ebenso gewalttätig wie unbemerkt niedergeschlagen werden. Ab einem gewissen Zeitpunkt aber wird die Bevölkerung ihren Anteil am Wachstumskuchen fordern. Die Konsequenzen derartiger Entwicklungen sind kaum absehbar und reichen von der Rückbesinnung auf kommunistische Ideologien bis hin zu militärischen Auseinandersetzungen im Inneren wie im Äußeren. Da eine überhastete Demokratisierung und Anpassung an westliche Verhältnisse am Arbeitsmarkt den Aufschwung schlagartig beenden würden können Kurzschlussreaktionen keineswegs ausgeschlossen werden.

Neben militärischen Gefahren ist die enorme finanzpolitische Macht Chinas als Gefahrenpotential zu betrachten. Durch die beständigen Handelsüberschüsse konnten die Chinesen beeindruckende Mengen an Dollarreserven und amerikanischen Staatsanleihen ansammeln. Ein stabiler Dollarkurs ist Grundvoraussetzung für das chinesische Wachstum, weshalb dessen bisherige Stabilisierung durch China durchaus eigennützig war. Durch innen- oder außenpolitische Unruhen aber könnten sich die Interessen der Chinesen schnell verändern. Die chinesische Regierung dürfte mittlerweile in der Lage sein allein durch taktische Umschichtung der Devisenreserven den Dollar und damit wohl das weltweite Finanzsystem niederzureißen. Die Konsequenzen würden die (so genannte) Finanzkrise der letzten Jahre wohl mehrfach übertreffen. Dieses Machtinstrument „verdanken“ die Chinesen allerdings einzig und allein der Unfähigkeit der westlichen Politik, Fehler einzugestehen.

Ebenso wie in der Entwicklungspolitik sollte der Westen zukünftig auf moralische Belehrungen weitgehend verzichten und stattdessen durch zuverlässige Handelspolitik den zurückgebliebenen Staaten einen Aufholprozess ermöglichen. Die Angst vor China und Indien in wirtschaftlicher Hinsicht ist stark überzeichnet. Ebenso wie andere Wachstumswunder wie Japan, Chile oder Argentinien werden auch China und Indien an ihre Grenzen stoßen. Der schnelle Wandel von der Werkbank der Welt zum Hochtechnologieland ist kaum nachhaltig. Zunehmende Abwanderung hoch qualifizierter Menschen sowie enorme demographische Herausforderungen stehen dem weiterführenden Aufstieg der beiden Großmächte im Wege. Gerade aber die Stolpersteine am indischen und chinesischen Weg stellen eine Gefahr für die wirtschaftliche und politische Stabilität der Welt dar. Die Prophezeiungen vom Ende der Geschichte waren sicherlich überstürzt. Eine globale Zusammenarbeit auf Augenhöhe aber kann zu einer Weiterentwicklung auf beiden Seiten beitragen. Auch der Westen hat noch viel zu lernen.
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